S. Kesper-Biermann: Einheit und Recht

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Titel
Einheit und Recht. Strafgesetzgebung und Kriminalrechtsexperten in Deutschland vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zum Reichsstrafgesetzbuch 1871


Autor(en)
Kesper-Biermann, Sylvia
Reihe
Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 245
Erschienen
Frankfurt am Main 2009: Vittorio Klostermann
Anzahl Seiten
501 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Urs Germann, Schweizerisches Bundesarchiv

Die Habilitationsschrift von Sylvia Kesper-Biermann schliesst zweifellos eine Lücke der Forschung. Weder die traditionelle, stark auf das Zivilrecht fokussierte Rechtsgeschichte noch die historische Kriminalitätsforschung hat sich bisher eingehend mit der Entstehung des Reichsstrafgesetzbuchs von 1871 beschäftigt, das über Deutschland hinaus bis weit ins 20. Jahrhundert hinein einen (negativ wie positiv besetzten) Referenzpunkt der rechts- und kriminalpolitischen Auseinandersetzungen darstellte. Die Autorin deklariert ihre Untersuchung als Beitrag zu einer «Neuen Ideengeschichte», wobei die Frage nach den «strafrechtlichen Ordnungsvorstellungen», welche die jeweilige Gesetzgebung prägten, im Vordergrund steht. Das Erkenntnisinteresse fokussiert einerseits auf die Kodifikationstätigkeit, die sich im 19. Jahrhundert zunächst in den Einzelstaaten, dann aber vor allem auf nationaler Ebene ausmachen lässt, andererseits auf das dabei zu beobachtende Verhältnis von Strafrechtsexperten, Gesetzgebung und Politik. Schliesslich stellt sich die Frage nach dem Zusammenhang von Kodifikation und Nationalstaatenbildung.

Die Untersuchung gliedert sich grob in drei Teile, wobei nacheinander das beruflich-soziale Profil der Strafrechtsexperten, ihre Kommunikationsnetzwerke sowie der Verlauf der Strafdebatten im 19. Jahrhundert (Kapitel II), die Gesetzgebungsprozesse in den Einzelstaaten (Kapitel III und IV) sowie die Forderung nach der Rechtseinheit und die Entstehung des Strafgesetzbuchs des Norddeutschen Bundes, das 1871 weitgehend unverändert zum Reichstrafgesetzbuch wurde (Kapitel V, VI, VII), beleuchtet werden.

Die überaus fundierte, differenziert argumentierende und flüssig geschriebene Untersuchung dürfte sich rasch als Grundlagenwerk für die Strafrechtsgeschichte im deutschsprachigen Raum etablieren, zumal einige Kapitel geradezu Handbuchcharakter haben. Zudem leistet sie einen wertvollen Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte des Strafrechts, die in den letzten Jahren oft einseitig aus dem Blickwinkel der späteren Kriminologie betrachtet wurde. Aus schweizerischer Sicht besonders interessant ist zum einen, dass die Kodifikationsbewegung auch in Deutschland lange durch einen ausgeprägten Rechtspartikularismus geprägt war, der allerdings früh durch Modellgesetzbücher wie den Code pénal von 1810 oder das Bayerische Strafgesetzbuch von 1813 kanalisiert wurde. In einer solchen Perspektive erscheint die Herausbildung eines in juristisch-dogmatischer Hinsicht relativ homogenen Strafrechts in der Tat weniger als Folge, denn als Voraussetzung für die Schaffung nationaler Rechtsordnungen. Zum andern erlaubt die Untersuchung, Charakte ristika der vergleichsweise spät einsetzenden Rechtsvereinheitlichung in der Schweiz – etwa die dominante Rolle einzelner Vertreter der Strafrechtswissenschaft, die Beschränkung der Zentralisierung auf das materielle Recht oder die Öffnung des Gesetzgebungsverfahrens im direktdemokratischen Politsystemkontrastierend herauszuarbeiten. Zu bedauern ist allerdings, dass der in der Einleitung angekündigte ideengeschichtliche Zugang – sieht man etwa von den Ausführungen zur Kontinuität der Ehrenstrafen ab – gegenüber der starken Gewichtung der Verfahrensabläufe insgesamt etwas zu kurz kommt und auch der wiederholt gebrauchte Begriff der «strafrechtlichen Ordnungsvorstellung» recht unbestimmt bleibt. Beispielsweise wird die Denk- und Legitimationsfigur des «Rechtsbewusstseins des Volkes» nur beiläufig und kaum in ihren vielschichtigen Bedeutungen und strategischen Verwendungsformen analysiert. Als juristischer Laie vermisst man auch einige grundsätzliche Überlegungen zum möglichen Zusammenhang von Straftheorien und Gesetzgebung: Wie können sich Annahmen über Sinn und Begründung der Strafe oder eben der für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts festgestellte straftheoretische Eklektizismus gesetzestechnisch überhaupt niederschlagen – etwa in Bezug auf die Definition der Strafrahmen oder die Regeln der Strafzumessung? Diese Kritikpunkte, die zugleich Desiderata für die weitere Forschung darstellen, schmälern die erwähnten Verdienste der Autorin indes keineswegs.

Zitierweise:
Urs Germann: Rezension zu: Sylvia Kesper-Biermann: Einheit und Recht. Strafgesetzgebung und Kriminalrechtsexperten in Deutschland vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zum Reichsstrafgesetzbuch 1871. (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte, Band 245) Frankfurt am Main, Vittorio Klostermann, 2009. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 60 Nr. 1, 2010, S. 159-160.

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Autor(en)
Beiträger
Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 60 Nr. 1, 2010, S. 159-160.

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